Wenn wir dem Hund das Geschenk machen möchten, ihn so sein zu lassen wie er nunmal ist, sollten wir zunächst klären, was der Hund denn ist. Und schon merken wir sehr schnell, daß das, was wir im Kopf haben, nicht unbedingt zutrifft, vielleicht sogar nicht viel mehr als Wunschdenken ist:
Der Hund ist ein Bewegungstier und möchte laufen
Begründet wird diese Aussage nicht selten von Fachleuten mit der Tatsache, daß Wölfe oftmals bis zu 70 km pro Tag zurücklegen. Die bevorzugte Gangart ist ein sogenannter geschnürter Trab, bei dem die Hinterpfoten in die Spur der Vorderpfoten treten, was eine besonders ausdauernde und energiesparende Fortbewegungsart ist.
Aus diesem Grund fahren viele Menschen mit ihren Hunden Fahrrad, um Strecke zu machen und den Hund auszulasten oder gehen stundenlang spazieren.
Wieviel Wolf steckt im Hund?
Doch ist dem wirklich so? Sollten wir mit unseren Erklärungen immer den Wolf heranziehen? Zweifelsfrei ist der Wolf der Stammvater des Hundes. Vor mehr als 30.000 Jahren hat sich der heutige Haushund aus der Stammesgeschichte des Wolfes abgespalten und parallel zum heutigen Wolf entwickelt. Wissenschaftler gehen heute davon aus, daß es auf dem Weg vom Wolf zum Hund noch eine Art Urhund gegeben hat. Eine dem Urhund ähnliche Form des Hundes lebt auch heute noch in einigen wenigen Teilen der Welt als isolierte genetische Art. Das Ehepaar Coppinger beschreibt in seinem Buch zum Beispiel die Hunde der Insel Pemba vor der ostafrikanischen Küste als eine Art Urform des heutigen Rassehundes.
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Auch in Thailand findet man Hunde ähnlichen Lebensstils |
Der Hund muß sich ohne Einschränkung durch Leine oder Zaun austoben können
Beutegreifer Hund - der Hund muß ausgelastet werden
Mit der Selektion auf bestimmte Arbeitsbereiche sind die genetischen Grundausstattungen der Hunde für bestimmte Verhaltensweisen verändert worden. Nun muß man sich das nicht so vorstellen, daß der Hütehund nachweisbar andere Gene hätte als zum Beispiel der Herdenschutzhund. Es ist den Genetikern nicht gelungen zum Beispiel "das Hüte-Gen" zu isolieren. Es ist vielmehr so, daß die Hunde je nach Spezialisierung in ihrer neurobiologischen Grundausstattung Unterschiede vorweisen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen, daß jeder Hund die gleiche Grundausstattung mitbekommt, aber bestimmte Vorkommnisse in bestimmten dafür sensiblen Phasen dafür sorgen, ob Verhalten an- oder abgeschaltet wird. Aus der Epigenetik ist bekannt, daß bestimmte Umweltbedingungen (wie z.B. Nahrung) zu bestimmten Zeiten bzw. Entwicklungsphasen eines Organismus dafür sorgen, daß andere Körperformen oder anderes Verhalten ausgebildet wird. Diese hypertrophierten und spezialisierten Verhaltensformen sind entsprechend selbstbelohnend, so daß der jeweilige Hund im Ausführen dieser Verhaltenssequenz sein dopaminerges System antriggert, was dazu führt, daß er das immer und immer wieder durchführen möchte. Im Umkehrschluß geht zum Beispiel das Wissenschaftlerpaar Coppinger davon aus, daß sehr wohl der Herdenschutzhund auch Jagdverhalten in Form von Hetzen an den Tag legen kann, dieses sich aber wieder und für alle Zeiten verliert, wenn der Hund sofort nach dem ersten Mal von der Schafherde weggebracht wird. Kurz gesagt: fehlt die Stimulation durch die Umwelt , unterbleibt die epigenetische Reaktion. Man muß sich also fragen, ob man rassetypisches Verhalten wirklich "antriggern" sollte, um es hinterher dem Hund wieder "ab zu trainieren"? oder ob es sich dabei nicht vielmehr um Geister handelt, die ich rief ohne sie wieder loszuwerden.
Der Hund braucht Artgenossen zum Ausleben seiner sozialen Bedürfnisse
Coppinger schreibt: "Die Hunde brauchen nicht wirklich eine soziale Struktur, um sich von weggeworfenen Hühnerknochen und Mangoschalen zu ernähren. ... Ein Leben im Rudel wäre daher für die Dorfhunde kein Selektionsvorteil."
Diese Beobachtung deckt sich mit anderen Forschungen an wildlebenden bzw. auch an verwilderten Haushunden. Wölfe stellen die Gruppengröße, wenn sie auf die Jagd gehen, nach der Größe der Beute zusammen. Ist die Beute sehr klein und im Alleingang jagdbar, tun sie es alleine. So auch der Wildhund. Die Beute der Pemba-Hunde ist nicht einmal mehr beweglich, sondern liegt in Form von Abfall überall frei verfügbar herum. Der Wildhund hat sich auch hier der ökologischen Nische angepasst: Sein Schädel hat sich verkleinert, die Zähne und sein Gehirn ebenfalls und sein Jagdverhalten hat sich auf Beutestöbern spezialisiert. Man sieht die Hunde selten in Gemeinschaft etwas tun, meistens sind sie wie zufällig zur selben Zeit am selben Ort mit ausgesprochen wenig sozialer Interaktion wie zum Beispiel Kontaktliegen oder prosoziales Verhalten. Diese Tatsache findet man auch bei Stefan Kirchhoff, der europäische Straßenhunde beobachtet hat und nur in Ausnahmefällen rudelähnliches Verhalten dokumentieren konnte. Und dann handelte es sich seiner Vermutung nach um miteinander verwandte Tiere.
Muss man demnach unseren Hund damit konfrontieren, ständig in Kontakt mit zudem fremden Artgenossen zu treten, nur damit er in Situationen zurecht kommt, in die wir Menschen ihn bringen? Wir verlangen dem Hund viel ab, wenn wir ihm die Möglichkeit aufzwingen, sein Sozialverhalten auszuleben. Wirklich natürlich wäre das Sozialverhalten im Kontext der Fortpflanzung und genau diesen Bereich haben wir Menschen voll unter Kontrolle - das ist ebenfalls widernatürlich.
Der Hund ist territorial
Der Hund ist also nur so territorial, wie wir Menschen ihn machen. Das tägliche Gassigehen zum Markieren des eigenen Territoriums, welches man sich mit vielen anderen Hunden teilen muß, führt sicher nicht zu einem verständnisvollen Umgang miteinander.
Jagdkumpan Hund
Lange Zeit ging man davon aus, daß Mensch und Hund vor allem zusammengefunden haben, weil Menschen Wolfswelpen aus dem Bau entnommen, gezähmt und letztlich domestiziert haben. Weiterhin sind sie gemeinsam auf die Jagd gegangen und durch diese Kooperation ist der Hund zu dem geworden, was er heute ist. Doch wenn man von den aktuellen Funden von Hundeknochen ausgeht, lebten die ersten Hunde vor mehr als 30.000 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Menschen noch gar nicht sesshaft. Auch ist es schwer vorstellbar, daß eigentliche Jagdkonkurrenten sich zusammenschließen und gemeinsame Sache machen. Dazu kommt, daß die gemeinsame Jagd auf Großwild sehr viel Energie verbraucht und wenn dann noch nicht einmal sicher ist, daß man die Beute auch fressen kann, ist es noch unwahrscheinlicher, daß Hunde "selbstlos" oder gar für den Menschen jagten. Doch auch in dieser Frage können uns möglicherweise die Hunde von Pemba weiterhelfen. Coppinger schreibt, diese Hunde fressen im Regelfall gar nichts Lebendiges. Sie verschwenden ihre Energie nicht für Hetzen oder Jagen und riskieren auch keine Verletzungen von wehrhaften Beutetieren. Selbst die freilaufenden Hühner werden von den Hunden auf Pemba weder gejagt noch gefressen. Die Nahrungsbeschaffung beschränkt sich darauf, zu warten, bis man etwas Fressbares auftaucht. Sie sind mehr Sammler als Jäger. Sollte unser Hund heute eigentlich vielleicht gar kein Jäger sein? Oder ist es vielmehr so, daß seine Anpassungsfähigkeit so groß ist, daß er beides kann? Dies wird für die Zukunft eine spannende Frage bleiben. Fakt ist: Muß der Hund nicht jagen, aber sehr wohl mit seinen Energien haushalten, wird er fressen, aber nicht jagen. Lebt er mit beidem im Überschuss, kann er es sich leisten, auch jagen zu gehen - jagen als Luxus und aus Spass trifft es für unsere Hunde wohl am Ehesten. Coppinger geht im Übrigen auch davon aus, daß die jagdliche Zusammenarbeit von Mensch und Hund auch nicht dem Nahrungserwerb sondern vielmehr dem Spass beider diente.
Sozialpartner Hund
Der Hund brauchte den Menschen ursprünglich eigentlich gar nicht, solange der Mensch passiv irgendwo seinen Müll liegen ließ und der Hund sich bedienen konnte. Der Mensch muß den Hund nicht aktiv füttern, es reicht, wenn er seine Abfälle zur Verfügung stellt. Dann kann der Hund problemlos ohne den Menschen auskommen. Er braucht ihn weder zur Gesellschaft, noch zur Absicherung oder zur Jungenaufzucht. Der Mensch ist für den Hund egal, wie man auch an vielen Naturvölkern sieht, die neben Hunden leben, jedoch keiner an den anderen Ansprüche stellt.
Der (Rasse-)Hund heute jedoch ist zu seinem eigentlichen ursprünglichen Leben nicht mehr in der Lage. Viele Hunderassen sind so gezüchtet, daß sie ohne den Menschen nicht überleben können. Die Abhängigkeit vom Menschen macht selbst vor der Gesundheit nicht halt. So werden Hunde gezüchtet, die ohne operative Eingriffe gar nicht lebensfähig sind. Durch die optischen Zuchtmerkmale verschiedener Rassen haben wir Hunde kreiert, die außerhalb des menschlichen Umfeldes keine Überlebenschance hätten. Sie sind Sklaven der menschlichen Eitelkeit geworden. Aus dem Überlebenskünstler Wildhund, der überaus erfolgreich seine ökologische Nische besetzt, haben Menschen Hunde gezüchtet, die ohne menschliches Zutun nicht lebensfähig sind. Ein Armutszeugnis menschlichen Hochmuts.
Der Mensch hingegen braucht oder besser - nutzt - den Hund in vielen unterschiedlichen Bereichen: Menschen brauchen Hunde für bestimmte Arbeiten, sie nutzen besondere Fähigkeiten des Hundes wie zum Beispiel seine Riechleistung oder auch Kraft und Ausdauer. Hunde werden benutzt, um Medikamente oder Kosmetika auszutesten, aber auch für Forschung und Wissenschaft. Hunde stellen soziale Verbindungen zwischen Menschen her und warnen vor Epilepsie oder Unterzuckerung. Sie sind Partner- und Kindersatz aber auch Freizeitpartner und Sportgerät. Diese Liste ließe sich nahezu endlos fortführen. Der Hund braucht den Menschen nicht, aber den Mensch den Hund umso mehr. Die Entscheidung darüber trifft der Mensch, der Hund hat keine Wahl.
Richtig problematisch wird es jetzt, wenn man darüber nachdenkt, daß ja auch viele Straßenhunde im Ausland inzwischen seit mehreren Generationen "wild" leben und sich entsprechend in ihre ökologische Nische eingenistet haben. Wenn man nun diese Hunde entnimmt und versucht, aus ihnen Haushunde in unserem menschlichen Umfeld zu machen, kann man sich die drohenden Probleme bildlich ausmalen. Selbst Kastrationsprogramme, die gut gemeint aber dennoch ein Eingriff in die natürliche Selektion sind, können ein möglicherweise natürliches Gleichgewicht stören.
Wolf, Urhund oder Hund?
Halten wir fest: Auf dem Weg vom Wolf zum Hund ist eine interessante Zwischenform der Urhund, der im Aussehen schon recht weit und vom Verhalten her noch viel weiter vom Wolf entfernt ist als wir heute unseren Hunden zugestehen wollen. Wir sollten, um Hundeverhalten verstehen zu können, nicht immer auf den Wolf schauen, sondern vor allem auf diese heute noch zu findenden Urhunde. In vielen Teilen der Welt kann man diese Hunde auf den Straßen und in der Nähe der Menschen finden. Von 600 Millionen Hunden, die es weltweit gibt, leben immerhin etwa 85% nicht in menschlicher Obhut! Ein großes Potential, das unsere Fragen in Bezug auf Hundeverhalten beantworten kann.
Urhunde und Hunde sind an eine vollkommen andere ökologische Nische angepasst als der Wolf - es wird Zeit, den wirklichen Urahn unseres Hundes unter die Lupe zu nehmen, um mehr über Hundeverhalten verstehen zu können. Nur so kann es gelingen, den Hund Hund sein zu lassen.
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