Folgende
Situation: eine Frau ist im Wald mit ihren beiden Hunden unterwegs.
Nennen wir sie Kerstin und die Hunde Fly und Tine. Tine ist eine
erwachsene 3,5 Jahre alt Colliehündin und Fly ein Hütehundmix-Mädchen im
Alter von 8 Monaten. Kerstin hat das Colliemädchen Tine im Alter von 12
Wochen vom Züchter und Fly aus dem Auslandstierschutz übernommen. Die
Colliehündin ist sehr an Kerstin orientiert, da sie als Welpe sehr krank
war und Kerstin aus Sorge Tine immer sehr eng bei sich hatte. Fly
hingegeen hat man auf der Straße neben ihrer toten Mutter und den
Geschwistern gefunden und mitgenommen, da war sie geschätzte 3 Monate
als.Alle drei sind nun im Wald unterwegs, als Fly
plötzlich wie der Blitz mit der Nase am Boden zur Seite schießt und im
Wald verschwindet. Tine und Kerstin bleiben auf dem Weg zurück und hören
wie Fly offenbar einer Wildspur folgend rhythmisch bellende Laute von
sich gibt. So kann Kerstin einigermaßen verfolgen, wo sich Fly aufhält.
Sie ist beunruhigt, also ruft sie Fly hinterher, obwohl sie sich nicht
sicher ist, ob Fly auf ihr Rufen reagiert. In der Hundeschule sind sie
gerade dabei, den Rückruf zu trainieren, aber so richtig sitzen tut der
noch nicht. Wie erwartet, lässt sich Fly nicht blicken. Dennoch kann man
ihren Weg gut anhand der Spurlaute verfolgen und so hofft Kerstin, daß
Fly gleich wiederkommt. Tine folgt ebenfalls per Blick dem Kläffen,
bleibt aber bei Kerstin und macht keinerlei Anstalten, Fly zu folgen.
Kerstin beginnt sich darüber zu ärgern, daß ihr Fly entwischen konnte.
Man hatte ihr in der Hundeschule dazu geraten, sie nicht von der Leine
zu lassen, damit sie in diesem Alter noch keine positive Jagderfahrung
machen kann. Der Hundetrainer hatte ihr erklärt, daß das Jagen
selbstbelohnend sei, auch wenn der Hund sicherlich nicht schnell genug
wäre, um wirklich ein Wildtier zu reißen. Kerstin hat ein schlechtes
Gewissen, denn sie spürt, dies könnte genau die Situation sein, von der
der Trainer gesprochen hatte. Dennoch bleibt ihr nichts anderes übrig
als zu warten. Zum Glück kommt Fly schnell zurück. Plötzlich taucht sie
zwischen zwei Bäumen auf und läuft mit rundem Rücken und wedelnder Rute
auf Kerstin zu. Kerstin atmet durch und schluckt ihren Ärger herunter.
Zu groß ist die Erleichterung und auch die Freude darüber, daß Fly
offenbar doch schon ganz gut hört und der Rückruf klappt. Kerstin lobt
Fly, zieht ein Leckerchen aus der Tasche und spricht zu ihr mit hoher
Stimme, um Fly zu zeigen, daß es richtig ist, zurückzukommen. Im
gleichen Moment jedoch springt Tine nach vorne auf Fly zu, knurrt sie an
und drückt sie auf den Boden. Kerstin ist erschrocken und schimpft mit
Tine. Tine weicht Kerstin aus, blickt sie von unten her an, fixiert aber
im nächsten Moment die am Boden liegende Fly. Kerstin versucht, Fly zu
trösten und zum Aufstehen zu bewegen. Sie sorgt sich, ob Fly nicht doch
lieber wieder das Weite suchen will, wenn sie beim Zurückkommen auf
diese Art von Tine "begrüßt" wird. Fly springt auf, wedelt wie
ein Welpe mit der Rute und springt an Kerstin hoch.
In
dem Moment stürzt sich Tine erneut auf Fly und drückt sie wieder auf
den Boden, indem sie die Schnauze von Fly ins Maul nimmt und
runterdrückt. Fly jault einmal auf, wirft sich auf die Seite und
wimmert. Kerstin ist stinksauer auf Tine, brüllt sie an und Tine springt
weg, um der wütenden Kerstin auszuweichen. Dennoch bleibt der Blick auf
Fly geheftet. Kerstin ist ratlos, was denn nur in Tine gefahren ist und
beschließt, mit beiden Hunden nach Hause zu gehen. Sie ruft beide zu
sich und marschiert los. Tine läuft an ihr vorbei nach vorne und
schnuppert am Wegesrand. Kerstin ist erleichtert, daß Tine sich offenbar
beruhigt hat. Fly läuft ebenfalls an ihr vorbei, ihre Körperhaltung ist
locker und Kerstin freut sich, daß Fly diesen Ausflug offenbar ohne
Schaden überstanden hat. Fly macht auf dem Rückweg keinerlei Anstalten,
den Weg zu verlassen, sie klebt förmlich in der Spur von Tine,
schnuppert hier und da, wo Tine geschnuppert hat und auch die
Colliehündin lässt Fly komplett in Ruhe. Von Aggression wie in der
Situation im Wald ist keine Spur mehr zu sehen. Kerstin ist etwas
verunsichert, wie sie das Verhalten von Tine einschätzen soll, sie macht
sich Sorgen, die beiden Hündinnen könnten sich nicht verstehen und am
Ende müsste sie sich vielleicht von einem der beiden Hunde trennen. Doch der
Rückweg lässt sie etwas entspannen, da es zu keiner weiteren
Auseinandersetzung der beiden kommt, sie laufen hintereinander in
lockerem Trab bis zum Auto. So nimmt sich Kerstin vor, mit dem
Hundetrainer zu besprechen, wie sie am Abruf von Fly arbeiten kann,
damit das besser klappt und was zu tun ist, damit Tine sich mit Fly
wieder besser versteht. Zur Sicherheit will sie mit beiden Hunden
ersteinmal getrennt unterwegs sein. So kann sie sich besser auf jeden
einzelnen konzentrieren und an der Bindung zu Fly arbeiten. Sie
befürchtet außerdem, daß die Attacke von Tine dazu geführt hat, daß Fly
nicht mehr so gerne zurückkommt und hofft, daß Fly nicht SIE damit in
Verbindung gebracht hat, daß es Ärger gab. Fly soll gerne
zurückkommen, so wird es doch im Abruftraining gelehrt. Also macht sich
Kerstin am nächsten Tag alleine mit Fly auf und sucht sich eine Wiese,
um den Abruf zu trainieren. In ihrer Tasche hat sie Fleischwurst, die
riecht gut und lässt sich prima als Belohnung füttern. In der anderen
Tasche hat sie ein dickes Stück Käse - einen Superjackpot. Käse gibt es
nur ganz selten und nur für ganz besonders gute Leistungen. Auf dem
Hinweg läuft Fly etwas vor, schnuppert rechts und links, bleibt aber
artig auf dem Weg. Jedes Mal, wenn Kerstin sie anspricht, bleibt Fly
stehen, schaut sich direkt zu ihr um und auf Kommando kommt Fly
angetrabt. Sie bekommt ein Stück Fleischwurst und darf ihren Weg
fortsetzen. Kerstin entspannt sich, es läuft alles super. Fly macht
keinerlei Anstalten, irgendeiner Spur zu folgen, nur als ein angeleinter
Hund von vorne kommt, springt sie bellend vor. Zum Glück lässt sich Fly
aber schnell abrufen, kommt direkt zu Kerstin zurück und bekommt
diesmal drei Brocken Fleischwurst, weil Kerstin sehr stolz darauf ist,
daß sie sich abrufen lies. Kerstin und Fly kommen also ohne Probleme an
der Wiese an. Fly schnuppert am Waldesrand und Kerstin denkt sich, das
sei eine gute Gelegenheit schon gleich den Abruf auch unter Ablenkung zu
üben. Sie ruft mit hoher Stimme "Hiiiiiiier!". Fly schießt herum,
galoppiert auf Kerstin zu und freut sich mit wedelnder Rute. Kerstin ist
froh, daß alles so gut läuft, holt ein Stück Käse aus der Tasche und
belohnt Fly für den gelungenen Rückruf. Ihre Erleichterung, daß Fly
offenbar keinen Schaden genommen hat durch die Aggression von Tine,
erfüllt sie auch mit Stolz. Sie freut sich schon auf die nächste
Trainingsstunde in der Hundeschule, wo sie zeigen kann, wie toll der
Rückruf klappt. Sie denkt, sie hat alles richtig gemacht und
entscheidet, mit Fly in den Wald zu gehen, denn das Spurlaufen neulich
war wohl nur ein Ausrutscher. Man kann es ihr auch nicht verdenken, hat
doch Kerstin mit Mantrailing angefangen und ihr damit ja schon auch den
Weg geöffnet, die Nase einzusetzen. Beide gehen entspannt des Weges, Fly
lässt sich abrufen und Kerstin platzt vor Stolz auf ihre kleine
folgsame Hündin.
Einige
Wochen später ist Kerstin wieder mit beiden Hunden im Wald. Das
Aggressionsverhalten von Tine Fly gegenüber hat sich nicht wiederholt
und Kerstin ist entspannt. Beide Hunde laufen vorne auf dem Weg,
schnuppern hier und da und alles ist ruhig, als plötzlich vorne ein Reh
den Weg kreuzt. Tine hat es nicht gesehen, weil sie gerade intensiv ein
Grasbüschel beschnupperte, aber Fly. Fly schießt nach vorne wie der
Blitz. Kerstin erschreckt sich, ruft reflexartig "Hiiiiiiier!", Fly
läuft zunächst noch etwas weiter, stoppt dann aber kurz bevor sie die
Colliehündin erreicht. Kerstin freut sich wie ein kleines Kind über
ihren Hund und ruft nochmal, damit sich Fly einen Jackpot abholen kann.
Während des weiteren Weges denkt Kerstin über die Situation nach und auf
einmal kommt ihr der Gedanke in den Kopf, es könnte vielleicht gar
nicht der Abruf gewesen sein, der Fly gestoppt hat. Sie war schließlich
noch etwas weiter gelaufen und auch gar nicht zurückgekommen. Ohnehin
hatte sie in den letzten Wochen das Gefühl, daß sich etwas verändert.
Irgendwie orientiert sich Fly immer mehr an Tine statt an ihr.
Was
war geschehen? In der ersten Situation als Fly aus dem Wald zurückkam,
nahm sie körpersprachlich eine beschwichtigende Haltung ein: Rücken
krumm, Rute unten, Kopf geduckt, Ohren zurück. Ihr war klar, sie würde
Ärger bekommen, denn sie war aus dem sozialen Verband "eigenmächtig"
ausgestiegen. Sie erwartete eine Maßregelung, die sie von der Mama in
der 7./8.Woche auch bekommen hatte. Statt Ärger bekam sie von Kerstin
eine positive Stimmung, da sich Kerstin über das Zurückkommen freute und
dies auch positiv bestärken wollte, damit der Hund über Konditionierung
lernen würde, dass es sich lohnt, zurückzukommen. Dennoch erfolgte
durch die erwachsene Colliehündin die Maßregelung, mit der Fly
eigentlich von Kerstin "als adäquate Ersatzmama" gerechnet hatte. So gab
es für Fly beides: Positive (= ich füge etwas hinzu) Belohnung und
positive Strafe (Schreckreiz, Schnauzgriff, Runterdrücken) von der
Collie-Hündin. Beide Maßnahmen haben nach den
Lerntheorien Konsequenzen: Die von Kerstin: Komm immer
zurück (Rückruf), das lohnt sich für Dich und die von der
Colliehündin wäre demnach: Komm nicht zurück, dann kriegst Du Ärger.
Beide
Maßnahmen haben aber daneben auch kommunikativen Charakter: Die von
Kerstin sagt aus: Egal was Du vorher getan hast, was Du jetzt tust, ist
richtig und die von der Colliehündin sagt aus: "Das, was Du vorher getan
hast, hat auch eine Bedeutung und zwar für uns als Gruppe und das geht
nicht! Du kannst nicht aus der Gruppe aussteigen, Dein eigenes Ding
machen und Dich und uns damit in Gefahr bringen!"
Und
genau das würde auch passieren, wenn z.B. eine Kindergartengruppe -
angeleitet von erwachsenen Fürsorgegaranten - gemeinsam auf dem Weg zum
Bus ist und ein Kind meint, es müsse jetzt Blumen auf einer Wiese
pflücken. Man würde dafür sorgen, daß die Gruppe zusammenbleibt und
notfalls auch mit dem blumenpflückenden Kind schimpfen, um es von seinem
Vorhaben abzuhalten. Auch das wäre per Definition eine positive (ich
füge etwas hinzu) Strafe.
Konditionierungen
wie Kerstin sie im Rahmen des Rückruftrainings durchführt, müssen um
generalisisert zu werden, hunderte von Malen an unterschiedlichen Orten
durchgeführt werden. Die soziale Komponente spielt dabei eine
untergeordnete Rolle, der Hund würde zu jedem gelaufen kommen, der ruft
und ein Leckerchen rausrückt. Erziehung im sozialen Kontext, wie sie die
Collie-Hündin durchgeführt hat, müssen mitnichten hunderte von Malen
durchgeführt werden. Sie sitzen in der Regel beim ersten Mal. Der Hund
hat ein obligates Bestreben, in eine soziale Gruppe integriert zu
werden. Wer alleine ist, ist verloren, so sein genetisches Erbe. Also
ist er von sich aus geneigt, soziale Interaktionen richtig zu
interpretieren, hündisches Verhalten zu verstehen und zu akzeptieren.
Dies gewährt ihm die Sicherheit, durch Kommunikation im Dialog
verstanden zu werden und selber auch verstehen zu können. Rückruf und
Leckerchengabe ist auch Kommunikation, allerdings eine, die im sozialen
Kontext eher gegenteiligen Charakter hat, da diese Form (Rückruf) und
Futtergabe unter Hunden so nicht stattfinden würde. So KANN der Hund
dieses Verhalten nicht in einen sozialen Kontext einsortieren, weil er
sozusagen dafür keine Matrix hat. Die Zeiten, in denen die Mamahündin
den Welpen freiwillig Futter abgegeben hat, sind seit der 7.Woche
vorbei. Seitdem wird Futter verteidigt und Tabus gesetzt, einen
"Rückruf" hat es so nicht gegeben. Stattdessen wurde unerlaubtes
Entfernen von der Gruppe geahndet und korrigiert.
Was
also lernt Fly in diesem Beispiel und das erklärt auch ihr Verhalten in
der zweiten Wildsichtungssituation? Sie lernt, daß die Colliehündin ein
verlässlicher Sicherheitsgarant ist, den man ernst nehmen sollte, an
dem man als Jungspund nicht einfach vorbeizurasen hat und orientiert
sich entsprechend an ihr. Sie scheint das Leben und die Gefahren zu
kennen und richtig einschätzen zu können. Kerstin hingegen hat ja
offenbar keine Ahnung vom Leben, lässt Fly selber Erfahrungen machen, in
Situationen, die Fly wichtig findet und versucht in gestellten
Situationen Verhalten zu dressieren. Dafür erkauft sie sich Flys
Aufmerksamkeit, die Fly ihr freiwillig (also ohne Lohn) gar nicht geben
würde. Sie ist kein Sicherheitsanker und verdient damit auch keine
Aufmerksamkeit oder den Anspruch auf Vorgaben, was zu tun oder zu lassen
ist.
Erziehung
ist eben nicht Dressur oder Training, sondern Integration in die
soziale (Menschen-)gruppe unter Berücksichtigung dessen, was der Hund
von uns erwarten darf, wenn wir ihn aus seiner eigentlichen sozialen
Gruppe herausreißen.
Ein sehr interessanter Artikel. Danke dafür. Ich habe schon vor 4 1/2 Jahren aufgehört, Leckerchen zu geben. Weil ich sehr früh merkte, das klappt nicht. Wenn meiner unerlaubt stöbern geht, belohne ich ihn nicht für's Zurückkommen. Im Gegenteil, er bekommt sofort die Konsequenzen zu spüren.
AntwortenLöschenMeine Hundetrainerin war damals nicht sehr angetan darüber, dass ich keine Leckerchen mehr geben wollte.
Ich lerne immer noch dazu. Und ich bin froh, dass es Leute mit Verstand gibt, die andere Hundebesitzer über das Verhalten der Hunde innerhalb des Rudels aufklären.